Das blaue Licht des Vollmondes schimmerte durch die dichten Tannen bis auf den schlammigen kleinen Tümpel, der ein wenig nach nassem Hund roch. Trotzdem gab es fast nichts, dass June von hier hätte fortlocken können. Flink grub sie ihre Krallen in die weiche Erde und buddelte so lange, bis eine gemütliche Kuhle entstanden war. Mit einem Seufzer, der allzu menschlich klang, ringelte sie sich in eben dieses Erdloch und schloss die Augen. Natürlich war jetzt eigentlich die beste Zeit zu jagen. Sie hätte sich ein Kaninchen fangen können, einen Fasan oder sogar ein Reh. Völlig mühelos, denn kaum ein Tier rannte vor ihr weg, so starr vor Schreck waren sie. Doch June hätte nie ein Tier töten können. Nicht solange es Pilze gab, die sie in dieser Gestalt mühelos vertrug, Beeren, die sie sammeln konnte, wenn der Vollmond nicht schien. Manchmal stahl sie sogar etwas von Wanderern, wenn diese nicht aufpassten oder lebte ganz einfach von den Resten, die diese in die Mülltonne bei den Picknicktischen warfen.
Nur noch manchmal dachte June an ihre erste eigene Wohnung mit der kleinen blitzblanken Küche zurück. Es war längst wie ein fast verblasster Traum. Die meisten ihrer Freunde hatten sie ohnehin sicherlich längst abgeschrieben. Niemand würde mehr nach ihr suchen, die Wohnung wäre längst neu vermietet. Aber es war egal. Sie hatte zwar mittlerweile mitbekommen, dass ihre Verwandlung nicht permanent war und sie, sobald der Mond wieder abnahm, wieder zu einer ganz normalen Frau wurde, aber es war längst zu spät.
Wie immer an Vollmond dachte sie an die Nacht ihres eigenen achtzehnten Geburtstags zurück. Das Wolfsfell war plötzlich in ihrem Gesicht gewachsen. Die meisten Gäste waren schon so angeheitert gewesen, dass sie hoffentlich nicht bemerkt hatten, in welchem Zustand June sich aus dem Badezimmer und aus der Wohnung geschlichen hatte. Sie hatte sich gerade noch ihre Kapuzenjacke überziehen können und war einfach los gerannt. Die Straße hinunter und trotz ihrer Panik sorgsam bedacht, nicht zu nah ans Licht der Laternen zu kommen. Hätte sie nicht diese engen Glitzerhosen angehabt, hätten sie die vorbeifahrenden Autofahrer sicher einfach für einen sehr bärtigen jungen Typen gehalten. Mit gewaltigen Sprüngen hatte sie bald die Stadt hinter sich gelassen und war immer weiter gerannt bis zu diesem Wald.
Als sie die ersten Mondstrahlen außerhalb der Stadthäuser getroffen hatten, hatte sich ein unbändiges Brüllen in ihrem Inneren aufgebaut, das sich schließlich nicht mehr zurückhalten ließ. Sie schrie so laut, dass die Erde unter den dicken Gummisohlen ihrer paillettenbesetzen Schnürstiefel vibrierte. Im nächsten Moment war sie auf Händen und Füßen weiter vorangeprescht, die Arme seltsam stark und länger, sodass sie ihren Rücken überhaupt nicht durchbiegen musste, um den Boden zu berühren. June sah auf ihr schmutzverkrustetes Fell. Schon lange hatte sie sich angewöhnt, ihre Kleider abends rechtzeitig auszuziehen. Die silbrige Hose hatten ihre eigenen Oberschenkelmuskeln schon in der ersten Nacht gewissermaßen gesprengt. Um nicht nackt herumlaufen zu müssen, wenn das Fell sich morgens einfach in Luft auflöste und sie wieder zu einer jungen Frau wurde, hatte sie kurz nach ihrer ersten Waldnacht einen Kleidersammelbehälter am Stadtrand geplündert.
Dabei hatte sie nie an Vampire, Elfen, Drachen oder… Werwölfe geglaubt. June seufzte. Fünf Jahre später war sie fast mit ihrem jetzigen Ich versöhnt.
Und trotzdem war da etwas, dass sie mehr vermisste als alles andere. Mehr als ihr Handy, ihren Job, ihre Wohnung, ihre Kleider. Menschliche Stimmen, Stimmen die mit ihr sprachen und die Wärme von menschlicher Haut an ihrer Seite. Jemanden, der sie einfach festhalten würde und dem sie von all dem erzählen konnte. Doch die Hoffnung auf andere Wesen zu treffen, die lediglich in Bücher oder Filme gehörten, hatte sie längst aufgegeben. Zumindest in diesem Wald gab es nur Tiere, gelegentliche Wanderer und hin und wieder picknickende Familien.
Bestimmt wäre sie längst durchgedreht, wenn nicht am Tag manchmal Nüsschen zu ihr gekommen wäre. Ein Eichhörnchen hätte sie am allerwenigsten in ihrer Nähe erwartet. Aber es hatte ihr eine Nuss geschenkt. Einfach so. Und dabei so mitfühlend ausgesehen. Mit der Zeit war es richtig zutraulich geworden. Vielleicht versprach es sich ihren Schutz und sie hätte es beschützt. Hätte sich ein Raubvogel oder ein Fuchs an sie herangetraut.
Es hatte keinen Sinn. Sie konnte heute nicht schlafen, nicht solange der Vollmond schien. Ihre Gedanken kreisten immer um ihre allererste Verwandlung und machten sie rastlos. Sie lag noch eine Weile da, dann gab sie auf.
„Dann also nicht“, sagte sie halblaut.
Sie strich ein wenig durch die Bäume und pünktlich zum Sonnenaufgang, setzte sich June vor einen Baumstumpf und beobachtete ihre Krallen. Ganz langsam, mit dem ersten Sonnenstrahl, der durch die Baumwipfel krabbelte, zog sich das grauschwarze Fell in ihre Haut zurück und hinterließ zwei Hände, an deren Fingernägeln noch türkise Nagellackreste zu erkennen waren. Perfekt manikürt sieht anders aus, dachte June und musste über sich selbst grinsen. Aber seitdem sie diese nächtliche Extrembehaarung hatte, kamen ihr ihre Beine und Füße beinahe unanständig nackt vor. Sie griff hinter sich und ertastete den Stapel ihrer Kleider. Sie zog erst einen grünen Socken an, dann einen rot-gelb geringelten. Es waren die einzigen ohne Löcher gewesen. Ihre Docs waren zwar arg ausgeleiert von ihren riesigen Pranken, aber es war besser als auf Socken durch den Wald zu tapsen. Und wenn sie sie eng schnürte, ging es fast. Die Jeans war etwas zu weit, aber sie hatte vor einiger Zeit sogar einen Gürtel gefunden mit einer großen Schnalle in Form einer Weltkugel. Als nächstes streifte sie ein Unterhemd über, darüber ein violettes T-Shirt, auf dem ironischerweise ein Vollmond und ein heulender Wolfskopf abgebildet waren. Schnell zog sie darüber ihre geliebte pinkfarbene Sweatjacke, die allmählich schon an Handgelenken und Ellbogen ausfranste.
Sie streckte ihre müden Glieder und verharrte mitten in der Bewegung. Da war ein Geräusch. Es klang wie... wie ein Lied. Ein singender Mensch. June wagte es nicht, Luft zu holen. Leise drehte sie den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme zu kommen schien. War da nicht etwas zwischen den Bäumen? Ja, da blitzte etwas orangefarbenes hindurch. Dann hörte sie ein ohrenbetäubendes Kreischen. Das war doch... eine Motorsäge die sich in die Rinde einer Kiefer fraß. Nüsschens Baum! Mit einem Ruck kehrte das Leben zurück in Junes Blutbahn und sie sprintete los. Dabei wollte sie etwas rufen, aber es hörte sich eher an wie ein ungelenkes Brüllen. Trotzdem verfehlte es nicht seine Wirkung. Das Sägegeräusch brach ab.
June preschte weiter durch das Unterholz, sprang behände über Brombeerranken und dicke Wurzeln und kam schließlich schlitternd vor einem Mann zum Stehen, der sie um gut zwei Köpfe überragte. Er hatte den Mund zu einem kleinen „O“ geformt und starrte sie aus riesigen grünen Augen durch eine Schutzbrille an. Auf seinen Ohren hatte er gelbe Plastikschützer. Die Säge sank langsam in seinen Händen Richtung Waldboden.
June drückte sich mit dem Rücken an die Kiefer, die bereits eine klaffende Wunde in der Rinde hatte. Harz rann über ihre Finger und sie wollte schreien, toben, aber da rannen nur zwei heiße Tränen über ihre Wange. Sie wischte sie schnell mit einer Hand weg und verteilte dabei den Harz in ihrem Gesicht.
Der Mann sah sich um und rief etwas. Junes eigenes Schluchzen dröhnte in ihren Ohren, sie konnte den Mann nicht verstehen, der mittlerweile einen Schritt auf sie zugekommen war und leise auf sie einredete. Die Säge stand jetzt still am Boden, er hatte sie losgelassen. Und June konnte nichts tun, als dastehen und weinen. Um Nüsschens Baum und weil dieser Mann der erste war, den sie seit Ewigkeiten ganz aus der Nähe gesehen hatte.
Ein zweiter Mann trat neben den mit den Ohrenschützern und sagte etwas zu ihm. Er nahm die Ohrenschützer ab und nickte. Der andere Mann hatte einen Dreitagebart, die gelben Ohrenschützer um seinen Hals baumeln und trug eine grüne Latzhose. Darüber ebenso wie der erste eine orange Warnweste.
„June?“, fragte er plötzlich.
Das war das erste Wort, dass June tatsächlich verstand. Ungläubig starrte sie den Mann an. Wer war der Typ? Er begann wie ein Wasserfall auf sie einzureden.
Sie bekam nur die Hälfte mit.
„... Plakate überall.... nicht gemeldet?.... Sorgen gemacht....werden sich so freuen.... geht es dir gut?“
Am liebsten wäre June einfach auf den Baum geklettert, aber ohne ihre Krallen ging das nicht. Es gab keine niedrigen Äste, an die sie sich hätte klammern können und mit Schuhen kam sie den Stamm so auf keinen Fall hinauf. Weglaufen war auch irgendwie hoffnungslos, natürlich hätten die Männer sie nie eingeholt, aber jetzt hatten sie sie gesehen und sie würden zurückkommen und nach ihr suchen. Es blieb nur eins. Eine Flucht aus diesem Wald, in ein neues Zuhause. Wehmütig hob sie den Blick zu Nüsschens Kobel. Aber wenn sie wegrannte, würde sie Nüsschen nicht beschützen können.
Der erste Mann blieb stehen, wo er war und hielt ihr eine Hand hin, so als ob er einen unsicheren Hund erst an seiner Hand schnüffeln lassen wollte.
„Keine Angst“, sagte er, ohne dabei die Lippen zu bewegen.
June starrte erschrocken in seine Augen. Sie hatte die Stimme ganz deutlich gehört, aber er hatte den Mund nicht bewegt.
„Warte bei dem Tümpel auf mich. Heute Nacht. Dein Freund wird ein neues Zuhause finden.“ Er zeigte nach oben und gerade in dem Augenblick sah June, wie Nüsschen von einem schmalen Ast absprang und in einem anderen Baum landete. Er hatte wohl Recht. Eine Weile konnte sie sich noch immer nicht bewegen, aber dann traf sie etwas am Kopf. Hart. Sie rieb sich die Stelle und etwas fiel ins Laub. Eine Walnuss. June lächelte leicht, dann duckte sie sich unter der Hand des zweiten Mannes weg und rannte los.
Hakenschlagend bahnte sie sich einen Weg ins dickste Unterholz und rannte bis zu den niedrigen Felsen am andere Ende des Waldes. Niemand war ihr gefolgt. Nur die Stimme des zweiten Mannes, noch bestimmt zwei Meilen lang hatte er ihren Namen gerufen. Während sie rannte, durchforstete sie ihre Erinnerungen und kam schließlich zu einem Namen. Frank. Ein kurzzeitiger Exfreund ihrer Schwester. Verdammt. Sie würden sie suchen kommen. Sie würde den Wald wirklich verlassen müssen, oder damit rechnen in eine Klinik eingewiesen zu werden. Wer einfach so fünf Jahre spurlos verschwindet und dann völlig verwildert in einem Wald gefunden wird, beim Versuch eine Kiefer vor der Abholzung zu bewahren, etwas Verrückteres konnten sich die meisten Leute wohl nicht vorstellen. In einer Klinik würde man schnell merken, was mit ihr los war.
Als die Sonne längst untergegangen war und nicht der Hauch eines menschlichen Geräuschs mehr im Wald zu vernehmen war, wagte sich June aus dem Schatten der Felsen. Sie wollte sich von Nüsschen verabschieden, bevor sie ging. Und vielleicht ein letztes Mal zu ihrem Tümpel gehen.
Erst als sie dort ankam, fielen ihr die Worte des Mannes wieder ein. Und das auch nur, weil sie an ihrem Lieblingsplatz nicht alleine war. Dort hockte auf einem Baumstumpf – ihrem Baumstumpf – der Mann. Die grünen Augen blitzen auf, als das silbrige Licht des Mondes sich über die Tannenspitzen erhob. June fühlte das bekannte Kribbeln auf ihrer Haut, als sie die Strahlen berührten und wollte soeben weglaufen, aber etwas ließ sie innehalten. Ein geflüstertes, beinahe geknurrtes Wort: „Warte“
Bevor sie sich umdrehte, sah sie sich den Mann genauer an. Er stand auf und zog sein Hemd aus. Langsam breitete sich auf seiner Brust ein grauer Schimmer aus. Sein Kiefer wurde spitzer und auch hier hatte er bald ein dichtes graues Fell. Auf einmal ließ er sich auf Hände und Füße herunter und hob den Kopf. Sein Jaulen war das schönste Geräusch, dass June seit langem gehört hatte.
(Erschienen in Neues aus
Anderwelt, Heft 1/2013, copyright Eileen Raven Scott)